Gut 80 Personen aus den Bereichen Medizin, Informatik, Versicherung und Ökonomie haben sich am 7. November im Greuterhof in Islikon TG zusammengefunden, um sich über hochaktuelle Themen rund um die Digitalisierung im Gesundheitsbereich zu informieren und konkrete Fragestellungen in Workshops zu vertiefen. Der Think Tank Thurgau war Träger der Veranstaltung, konzipiert, vorbereitet und geleitet wurde sie von einem Team unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Jaeschke, Leiter des Instituts für Informations- und Prozessmanagement an der Fachhochschule St.Gallen.

Active Assisted Living, E-Health und Telemedizin

Mit dieser Keynote eröffnete Prof. Dr. med. Christiane Brockes den diesjährigen Wissenschaftskongress des Think Tank Thurgau. Ein erster Schwerpunkt ihrer Ausführungen war die Telemedizin und ihr Chancenpotenzial in Anbetracht der deutlich abnehmenden Verfügbarkeit von medizinischem Fachpersonal. Sie betonte die wertvolle Unterstützungsleistung neuester Informations- und Kommunikationsmittel für ein breites Spektrum medizinischer Leistungen bis zur Option, das eigene Wohnzimmer in ein «hospital at home» umzurüsten. Sie ist überzeugt, Menschen werden in der Medizin auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, aber die Digitalisierung wird einen zunehmenden Beitrag für Ärzte, Pflegepersonal und Patienten leisten. Daher müssten die Optionen der Digitalisierung, wie beispielsweise Active Assisted Living Systeme oder Telemedizin, auch integrierter Bestandteil der Ausbildung auf allen Stufen sein.

Wearables – Therapie oder Lifestyle

Trackinggeräte sind heute weit verbreitet und können einen wesentlichen Beitrag im Rahmen der Gesundheitsprävention leisten. Sie haben bereits zu einem Umdenken geführt: Nutzer von Trackingsystemen werden stärker für ihre Gesundheit sensibilisiert, ihre Gesundheitskompetenz wird gefördert. Aber, es muss Spass machen, das ist vor allem bei jüngeren Patientinnen und Patienten die Voraussetzung. Für ältere Menschen stehen heute eine Reihe wirksamer digitaler Hilfsmittel zur Verfügung, vom Fallsensor-Armband über das Vibrationsalarmarmband für Schwerhörige, die Notfalluhr bis zum Sturzsensor im Bodenbelag, Stichwort Smart Home. Hier ist Überzeugungsarbeit gefragt, denn oft wollen ältere Menschen sich nicht eingestehen, solche Hilfsmittel zu brauchen.

Telemedizin – erweiterte Beziehung Arzt-Patient

Christiane Brockes ist überzeugt vom Nutzen der Telemedizin. Sie hat schon vor Jahren ein solches Angebot am Unispital Zürich aufgebaut und weiss um den Nutzen sowohl für Ärzte (Entlastung) wie auch für Patienten (alternative Option/schnelle Hilfe bei einer Reihe von eindeutigen Problemen). Interessant in diesem Kontext ist auch, dass deutlich mehr Männer davon Gebrauch machen als Frauen. Männer, das zeigt die Erfahrung, die mit ihren gesundheitlichen Problemen die persönliche Konsultation eines Arztes erst zu einem späteren Zeitpunkt in Erwägung ziehen würden und dank Telemedizin frühzeitiger medizinisch beraten und betreut werden können.

Christiane Brockes plädiert für einen breiten Einsatz der Telemedizin sowie die Nutzung von Active Assisted Living Systemen. Aber sie weist auch nachdrücklich darauf hin, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen dringend angepasst werden müssen: «Wenn wir machen, was wir machen können, bewegen wir uns schnell an der Grenze des Legalen…». Daneben ist es vor allem die heutige Kostenstruktur im Gesundheitswesen, die dringend auf die neuen Möglichkeiten angepasst werden müsse.

Datenanalyse in der Schlafmedizin

In der Schweiz wird schlecht geschlafen und es werden zu viele Schlafmittel eingenommen. Mit dieser Feststellung eröffnete Prof. Dr. med. Ramin Khatami, Leiter Schlafmedizin an der Klinik Barmelweid seine Keynote. Die Datenanalysen im Schlaflabor wie auch die Analysen auf Basis extern ermittelter Daten (Wearables) liefern wichtige Erkenntnisse auf dem Weg zum Ziel: der gezielten Modulation von Schlafparametern. Dabei ist die Schlafanalyse im Labor mit hohem Aufwand verbunden. Patienten müssen von Kopf bis Fuss verkabelt werden, eine Unmenge von Daten wird erfasst: von den Hirnströmen über die Augenbewegungen bis zum Muskeltonus. Die Auswertung dieser Daten muss in weiten Teilen manuell erfolgen. «Wir lechzen nach automatischer Datenauswertung», so Ramin Khatami. Diese sei heute auf gutem Weg, beinhalte aber auch noch eine Menge Verbesserungspotenzial, nicht in Bezug auf die Datenbasis oder Rechenleistung, sondern hinsichtlich der anspruchsvollen Differenzierung der Daten in der Auswertung.

Artificial Intelligence – der Arzt der Zukunft?

Sie näherten sich der Thematik von unterschiedlichen Seiten: Der Physiker Dr. Andrea Giovannini der ETH Zürich von der technologischen und Prof. Dr. med. Bernd Schultes vom Stoffwechselzentrum St. Gallen von der klinischen Seite. Gemeinsam haben sie versucht auszuloten, welche Rolle medizinisches Fachpersonal im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz spielt, wie weit sie Diagnose und Therapieanordnung unterstützen oder sogar ersetzen kann. Und sie sind der Frage nachgegangen, welche Automatisierungen möglich und wünschenswert sind und wie die Aufgabenverteilung zwischen Arzt und Maschine in Zukunft aussehen könnte.

Einig waren sich alle, dass künstliche Intelligenz heute ein ausgeprägtes Revival erlebt, weil die Rechenleistungen massiv verbessert werden konnten, die schnelle Verfügbarkeit von grossen und komplexen Datensätzen erhöht wurde und die Qualität der Algorithmen deutlich verbessert werden konnte. Die Performance von Künstlicher Intelligenz in sehr spezifischen Fällen wurde als sehr gut beurteilt, die Herausforderung in der Ausweitung vom spezifischen System auf das ganze (zum Beispiel den Menschen) verortet.

Mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Medizin soll vor allem die Effizienz erhöht und die Qualität verbessert werden. Bildanalysesysteme, Medikamenteninteraktions-Checks, Glukosesensoren mit Insulinpumpen oder Risikorechner sind heute aus dem medizinischen Alltag nicht mehr wegzudenken und leisten einen wichtigen unterstützenden Beitrag für das medizinische Fachpersonal wie für die Patienten. Aber, und dieser Einwand wurde im Workshop immer wieder laut, die Software ist jeweils nur so gut, wie die Daten, mit denen sie arbeitet und wie der Mensch, der sie programmiert hat. «Ich misstraue nicht so sehr der Maschine, als vielmehr dem Menschen, der sie programmiert hat – Menschen machen Fehler», brachte ein Teilnehmer das Thema auf den Punkt. Der Faktor Empathie wurde ebenfalls eingehend diskutiert. Auch wenn die Maschine weniger Fehler macht als ein Mensch, weil sie extrem viele Vergleichsdaten zur Verfügung hat, nie ermüdet, nichts übersieht und nie subjektiv entscheidet, spielt die persönliche Vertrauensbasis von Arzt und Patient nach wie vor eine zentrale Rolle.

Fazit: Künstliche Intelligenz kann den Arzt nicht ersetzen, aber sie kann einen wesentlichen Beitrag zur Qualität und zur Effizienzsteigerung in der medizinischen Arbeit leisten. Ein wichtiges Signal angesichts der Prognose, dass die Verfügbarkeit von medizinischem Fachpersonal weiter abnehmen wird. Die optimale Schnittstelle wird eine der zentralen Herausforderungen bleiben.

In weiteren Workshops wurden unter der Leitung von Experten die Themen «Digitalisierung und Robotik in der Pflege», «Prävention und Unterstützung von Verhaltensänderung für nachhaltige Gesundheit» sowie «Anonymisierte offene Gesundheitsdaten» bearbeitet. Eine Zusammenfassung dieser Ergebnisse steht demnächst online zur Verfügung: www.thinktankthurgau.ch oder www.digital-health-kongress.ch