Liebe Leserinnen und Leser
Es war letzten Herbst, da traten auf Social Media die ersten verallgemeinernden Posts auf, dass Schweden in der Bildungspolitik einen Richtungswechsel vollzog. Statt mit dem Computer sollten Schülerinnen und Schüler wieder vermehrt mit Schulbüchern lernen. In kurzer Zeit wurden solche Artikel in unzähligen Foren verbreitet, klassische Medien folgten. Vielen war eines gemeinsam: Eine simplifizierende Sichtweise. Genauso wie der Computer zuvor sehr oft als „Lösung“ für alle Bildungsprobleme gepriesen wurde, wurde er nun kritisiert. Beides greift zu kurz.
Ich wurde verschiedentlich gefragt, welche Konsequenzen wir an der Pädagogischen Hochschule Thurgau aus dieser Entwicklung in Schweden ziehen würden. „Keine“, sagte ich. Denn wir verfolgen schon immer eine viel differenziertere Haltung. Selbstverständlich sollen Schülerinnen und Schüler lernen, Computer kompetent zu nutzen. Alles andere ist Verrat am grundlegenden Bildungsauftrag einer Schule. Genauso selbstverständlich machen Computer weder Schule noch Unterricht automatisch besser. Schule muss Lernumgebungen bieten, damit Schülerinnen und Schüler die in ihrer Zeit zentralen Kompetenzen erwerben können. Das findet statt am und mit dem Computer. Es findet statt mit Handschrift auf Papier, mit Kreide an der Wandtafel, mit Büchern. Es findet statt im lebendigen Austausch in der Gruppe. Und es findet handelnd statt, in der Werkstatt oder im Makerspace, auf dem Sportplatz oder im Wald.
Differenziert setzt sich beispielsweise eine OECD-Studie mit dem Thema auseinander. Sie empfiehlt, Handys „gezielt“ einzusetzen. Eigentlich müsste dies längst selbstverständlich sein. Früher hiess es einmal: „Ein gutes Arbeitsblatt macht noch keinen sinnvollen Unterricht.“ Genauso muss es heute heissen: Bloss, weil ein Computer im Schulzimmer steht, ist der Unterricht noch nicht modern. Aber umgekehrt gilt genauso: Der blosse Verzicht auf Handys, wie er in vielen Parlamenten derzeit diskutiert wird, verbessert den Unterricht genauso wenig. Im richtigen Moment nutzen, im richtigen Moment weglegen – darum ginge es.
Genauso ist es mit Künstlicher Intelligenz. Ein Beitrag von „Nano“ schildert umfassend die Möglichkeiten, Chancen, Risiken der Nutzung von Künstlicher Intelligenz und zeigt, wie wir hier sukzessive die notwendige Kompetenz aufbauen können. Jürg Widrig, Romanshorner Kantonsschullehrer, sagte anlässlich der TTT-Tagung in Frauenfeld: „Wenn ich KI als Lehrer sinnvoll nutze, habe ich mehr Zeit für Lerngespräche mit meinen Schülerinnen und Schülern.“ Toll, wenn das gelingt!
Zu umfassender Auseinandersetzung gehören auch kritische Gedanken. Zwei Beiträge von Algorithmwatch nennen problematische Aspekte der Nutzung von Künstlicher Intelligenz. Der erste zeigt auf, wie KI einseitig stereotype Bilder produziert. Ein Professor ist ein Mann. Ein Arzt genauso. Ein Präsidentschaftskandidat sowieso. Und weiss.
Der zweite Beitrag weist auf falsche Nutzung von KI hin. KI kann Ideen generieren, kann Vorschläge machen, Kreativität fördern usw. Zur Recherche von Fakten oder zur Meinungsbildung ist sie (derzeit noch) völlig ungeeignet. Eine Untersuchung zeigt: „Die Antworten, die grosse Sprachmodelle auf wichtige Fragen geben, sind zum Teil komplett falsch, zum Teil irreführend, unvollständig oder veraltet. Bing Chat, ChatGPT und Co. können so der öffentlichen Meinungsbildung in einer Demokratie gefährlich werden.“
Gebot der Stunde ist, Schülerinnen und Schülern nicht immer MEHR Lernstoff vermitteln zu wollen, sondern sie dazu zu bringen, intensiver, bewusster, vertiefter das Wesentliche zu lernen. Die Stiftung Silviva liefert tolle Ideen und Materialien zum „Lernen in und mit der Natur“. Das Beispiel zeigt deutlich: In einer Kombination von digitalem Lernen mit solchen Ansätzen liegt viel mehr Potential, als wenn wir einfach den Computer wieder durch Arbeitsblätter ersetzen.
Abschliessen möchte ich mit zwei Tagungshinweisen: Der erste ist ein Video als Rückblick auf die Tagung „Lernen im Kontext von Künstlicher Intelligenz“ von Think Tank Thurgau und PH Thurgau. Der zweite betrifft den Innovationstag von Smarter Thurgau. Er befasst sich mit dem Thema „Der Mensch im Zentrum des digitalen Wandels“ und bringt ein interessantes Programm zu einem Thema, das der TTT letztes Jahr ebenfalls bearbeitet hat.
Mit freundlichen Grüssen und besten Wünschen in die Sommerzeit
Thomas Merz, Mitglied Stiftungsrat Think Tank Thurgau
Schwedens Bildungspolitik: „Wir haben zu viel digital gemacht“
Schweden vollzog in der Bildungspolitik einen Richtungswechsel vollzog. Statt mit dem Computer sollten Schülerinnen und Schüler wieder vermehrt mit Schulbüchern lernen.
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Der blosse Verzicht auf Handys, wie er in vielen Parlamenten derzeit diskutiert wird, verbessert den Unterricht genauso wenig.
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„Wenn ich KI als Lehrer sinnvoll nutze, habe ich mehr Zeit für Lerngespräche mit meinen Schülerinnen und Schülern.“, sagt Jürg Widrig, Lehrer an der Kantonsschule Romanshorn.
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„Die Antworten, die grosse Sprachmodelle auf wichtige Fragen geben, sind zum Teil komplett falsch, zum Teil irreführend, unvollständig oder veraltet. Bing Chat, ChatGPT und Co. können so der öffentlichen Meinungsbildung in einer Demokratie gefährlich werden.“
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Die Stiftung Silviva liefert tolle Ideen und Materialien zum „Lernen in und mit der Natur“.
TTT-Wissenschaftskongress 2024
Im Video zum Wissenschaftskongress „Lernen im Kontext von Künstlicher Intelligenz“ sind die Erkenntnisse zusammengefasst.
Sind wir die Piloten des digitalen Wandels oder bloss Passagiere? Insbesondere mit der rasanten Verbreitung von generativer KI hat diese Frage wieder an Dringlichkeit gewonnen. Der Innovationstag von Smarter Thurgau stellt Fragen und gibt Antworten.